Aggression und Gewalt durch seelische Störungen

Gewalttätigkeit nimmt zu. Dies betrifft nicht nur seelisch Kranke, wird aber besonders auf psychiatrische Störungen projiziert, vor allem in spektakulären Medienberichten. Einzelheiten zu neueren Erkenntnissen, insbesondere was die meisten betroffenen psychiatrischen Krankheitsbilder, Ursachen und Risikofaktoren, psychodynamischen Aspekte und weitere Details anbelangt, siehe der ausführliche Beitrag. Nachfolgend lediglich eine Kurzfassung über die wichtigsten Handlungsempfehlungen bei akuter und immer wiederkehrender Gewalttätigkeit durch seelische Störungen in Stichworten.

Aggression und damit Gewaltbereitschaft, Fremdgefährdung und Selbstgefährdung nehmen in unserer Zeit und Gesellschaft offenbar zu. Dies betrifft jedoch nicht (nur) psychisch Kranke. Die Mehrheit der gewalttätigen Menschen in unserer Gesellschaft ist weder psychisch noch anderweitig krank. Entgegen landläufiger Meinung und trotz spektakulärer Medienberichte kommen schwere (!) Gewalttaten Geistesgestörter und Geistesschwacher letztlich nicht öfter vor, als es ihrer Verteilung in der Gesamtbevölkerung entspricht. Allerdings gibt es psychiatrische Krankheitsbilder mit erhöhtem Gewalttatenrisiko. Und es gibt nicht nur widersprüchliche Untersuchungsergebnisse, sondern auch eine objektivierbare Änderung im Spektrum der Gewalt in den letzten Jahren.

Nachfolgend einige kurzgefaßte Handlungsempfehlungen, wie man bei akuter Gewalttätigkeit (= aggressiver Erregungszustand) und immer wiederkehrenden gewalttätigem Verhalten seelisch Kranker reagieren soll.

1. Akute Gewalttätigkeit

Akute Gewalttätigkeit geht regelmäßig mit einem aggressiven Erregungszustand einher: Starke seelisch-körperliche Erregung (unruhiges Hin- und Herlaufen, Gestikulieren), aber auch vorausgehende seelisch-körperliche Hemmung mit vermehrter psychischer Anspannung, erhöhte Muskelspannung, verkrampfter Haltung, starrer Mimik u. a. Extremform: katatoner Stupor; ferner laute Beschimpfungen und Drohungen, aggressive Gesten (Fäuste ballen, auf Gegenstände schlagen) sowie vegetative Erregung (Schwitzen, Herzrasen, Hautrötung oder -blässe) usw.

Vorkommen

Praktisch bei allen seelischen Störungen möglich, vor allem aber akute endogene und organische Psychosen, Vergiftungszustände (Intoxikationen), Entzugssyndrome, Epilepsien (nach dem Anfall, epileptische Psychose, zwischenmenschliche Auseinandersetzungen usw.). Einzelheiten s. die entsprechenden Stichworte.

Verlauf

Akut, kurzfristig.

Therapie der akuten Gewalttätigkeit im Rahmen seelischer Erkrankungen

Psychiatrischer Notfall! Gelingt keine Beruhigung durch Haus- oder Notarzt bzw. Sanitäter oder Polizei, ist eine Klinikeinweisung unumgänglich (Einweisungsmodalitäten beachten, Verdacht auf psychiatrische Erkrankung und vor allem Fremdgefährdung bestätigen).

Wichtig: Sicherheitsaspekte beachten

​Besteht Verdacht auf Waffenbesitz, dann keine weiteren Interventionen, notfalls Polizei hinzuziehen. Vorsicht vor gefährlichen Gegenständen (Flaschen, Kugelschreiber (Augen!), Aschenbecher usw.). Fluchtwege für alle Beteiligten freihalten (nicht nur für Arzt, Sanitäter, Angehörige, auch für den seelisch kranken Patienten, der sich subjektiv bedroht fühlen kann). Zweiergespräche nur, wenn jegliches Risiko ausgeschlossen ist (Gefahr der Selbstüberschätzung, besonders bei Unerfahrenheit).

Klinikaufnahme

Bei der Klinikaufnahme ausreichend Mitarbeiter, um eine körperliche Überlegenheit zu sichern (jedoch keine unnötige Demonstration der Stärke provozieren). Ggfs. Sicherungsmittel (Isolierräume, Fixierung) bereithalten. Klinik vorab informieren, um alle notwendigen Maßnahmen treffen zu können. Jedoch möglichst keine Diskussion in Anwesenheit des Patienten.

Entspannende Interventionen

Folgende Maßnahmen beachten, die zur Entspannung beitragen können: Gesprächsführung durch Personen des Vertrauens, vielleicht schon zuvor bekannte Bezugspersonen mit beruhigendem Einfluß hinzuziehen, solche mit ungünstigem umgehend entfernen (drohende Eskalation). Interesse und Einfühlung zeigen, keine Konfrontation, keine heimlich ablehnende oder überhebliche Haltung. Symptome ansprechen, die am ehesten Behandlungsbereitschaft erwarten lassen: Streß, Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Angst, „Durcheinander von Gedanken und Gefühlen“ usw. Verständnis signalisieren. Konkrete Hilfsangebote machen: Ruhe, eigenes Zimmer, falls sinnvoll beruhigende Mittel (z. B. Tee, ggfs. Beruhigungs- oder Schlafmittel anbieten, diese dann aber auch erläutern). Patient nicht erniedrigen, eigene Wahlmöglichkeiten des Betroffenen offen lassen. Mitspracherecht sichern, schon in kleinen („wo möchten Sie sitzen?“ „Möchten Sie etwas essen oder trinken?“). Je gelassener und sicherer der Therapeut, desto besser läßt sich der Patient trotz unkontrollierbarer Impulse führen. Dabei durchaus bestimmtes Auftreten und Aufzeigen von Grenzen und Konsequenzen, jedoch Drohungen vermeiden. Ggfs. Neigung zu Aggressionen ansprechen (die dem Patienten selber Angst bereiten können). Sind Zwangsmaßnahmen notwendig, dann diese unbeirrbar ankündigen und konsequent durchführen.

Therapie mit Medikamenten

Eine Pharmakotherapie mit psychotropen Arzneimitteln, insbesondere bestimmten Psychopharmaka ist bei akuten Erregungszuständen oft nicht zu vermeiden (am häufigsten hoch-, mittel- und niederpotente Neuroleptika sowie Beruhigungsmittel). Deshalb den Patienten darauf hinweisen, ggfs. Darreichungsform wählen lassen: Tropfen (wirken bisweilen überraschend schnell), Saft, notfalls Injektion (in die Venen (i. v.) wirkt zwar am raschesten, wird aber auch als besonders demütigend empfunden; bei Injektionen in den Muskel (i. m.) ist kein Soforteffekt zu erwarten). Medikamente: hochpotente und niederpotente Neuroleptika, ggfs. Beruhigungsmittel vom Benzodiazepin-Typ, besonders in flüssiger Form.

2. Ständig wiederkehrende Gewalttätigkeit

Ein immer wiederkehrendes gewalttätiges Verhalten ist selten, meist in Kliniken, Heimen, Vollzugsanstalten.

Vorkommen

Geistige Behinderung, Persönlichkeitsstörungen mit dissozialen Zügen und häufig zusätzlicher Suchtproblematik, organische Hirnschädigungen, schizophrene Psychosen, oft mehrere psychiatrische Diagnosen und eine zusätzliche Mileuschädigung zusammen. Einzelheiten s. die jeweiligen Stichworte.

Verlauf

Langwierig bis chronisch. Häufig persönlichkeitsspezifzische, gleichförmige und in entsprechenden Situationen immer wiederkehrende Reaktionsmuster. Aber auch unerwartete, selbst für den Kranken unkontrollierbare Impulsdurchbrüche (z. B. auch bei überkontrollierten und aggressionsgehemmten Patienten) sowie durch Lernerfahrungen erworbene Verhaltensweisen (auch im negativen).

Therapiemaßnahmen bei ständig wiederkehrender Gewalttätigkeit im Rahmen seelischer Störungen

Rahmenbedingungen und Sicherheitsaspekte beachten

Sorgfältige Rahmenbedingungen klären und Sicherheitsaspekte beachten. Auch hier sind es wieder vor allem die Unerfahrenen, die die meisten Zwischenfälle ertragen müssen. Deshalb: Ausbildung eines professionellen Teams. Ausreichende personelle Ausstattung. Isolierräume, externe Beschäftigungsmöglichkeiten (Beschäftigungstherapie, geschützter Arbeitsplatz). Geklärte juristische Voraussetzungen für Aufenthalt und Behandlung. Drahtlose Ruf- und Alarmsysteme. Ggfs. Selbstverteidigungskurse für Personal (nur sinnvoll bei gleichzeitiger psychotherapeutischer Schulung, da sonst Gefahr von Provokation und Demonstration der Stärke). Ferner Supervision durch einen auswertigen Experten (Therapie, Krisen, sonstige Schwierigkeiten). Wichtig: nur begrenzte Zahl chronisch gewalttätiger Patienten auf einer Station; Spezialstationen mit Zusammenfassung solcher Kranken haben sich nicht bewährt.

Spezielle therapeutische Strategien

Zu den speziellen therapeutischen Strategien gehören beispielsweise: Analyse der aggressiven Beweggründe und typischen Auslösesituationen (die sich ständig wiederholen können). Aufbau tragfähiger Beziehungen zu mehreren Bezugspersonen. Stationsinterne soziale Norm gegen Gewalt (d. h. modellhaftes Vorleben durch das Behandlungsteam). Intensive Besprechung solcher Vorfälle (Bearbeitung von Verdrängungsmechanismen). Besprechung bevorstehender schwieriger Situationen. Fortlaufende Team-Supervisionen (Absprachen, Teamkonflikte, Spaltungsvorgänge beachten: „Guter Arzt – böser Pfleger“ usw.). Sicherung von Solidarität (viele aggressive Patienten sind Meister im Spalten von Teams).

Einbeziehung von Familie und Angehörigen. Stärkung von Selbstkontrolle und Eigenverantwortung gewalttätiger Patienten (Einzelsportarten, gruppentypische Normen: „Ehrenwort“ usw.). Bei überkontrollierten Patienten Einüben nicht-gewalttätiger aggressiver Äußerungsformen (z. B. körperorientierte Therapieverfahren, Mannschaftssportarten). Bei geistig Behinderten körperorientierte Behandlung ohnehin günstiger, da verbale Zugänglichkeit geringer. Klar definierte Grenzen und Konsequenzen.

Vorsicht vor „Verträgen“ und „Vereinbarungen“; sie setzen auch das therapeutische Team unter Zugzwang. Bei ausschließlich negativen Konsequenzen besteht zudem die Gefahr, dass sich der Patient mit dem strafenden Therapeutenverhalten als gewalttätigem Modell identifiziert. Deshalb auch positive Aspekte nicht vergessen („positive Verstärker“).

Juristische Maßnahmen (Strafanzeige) nur in sorgfältig abgesprochenen Einzelfällen.

Medikamentöse Möglichkeiten

Zur Pharmakotherapie ständig wiederkehrender Gewalttätigkeit gehören hochpotente und niederpotente Neuroleptika, zeitweise Tranquilizer vom Benzodiazepin-Typ, in flüssiger Form effektiver. In Einzelfällen Langzeitbehandlung mit Lithiumsalzen, Carbamazepin u. a.

Weitere Details siehe der ausführliche Beitrag zum Thema Aggression und Gewalt durch seelische Störungen.

Weiterführende Literatur

  • Wachsende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen und Fachbüchern sowie immer mehr populärmedizinische Artikel und Sachbücher. Grundlage vorliegender Ausführungen sind:
  • Faust, V., T. Steinert, C. Scharfetter: Psychopathologie 6: Aggressionen. Enke-Verlag, Stuttgart 1998 (kostenlos bei Hoffmann-La Roche, Emil-Barell-Str. 1, D-79639 Grenzach-Wyhlen)
  • Steinert, T.: Aggression. In: V. Faust (Hrsg.): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. G. Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996
  • Steinert, T.: Aggression bei psychisch Kranken. Enke-Verlag, Stuttgart 1995
  • Steinert, T.: Aggression und Gewalt bei Schizophrenie. Waxmann-Verlag, Münster 1998