Hilfe in Gewaltsituationen

Gütekräftiges Verhalten wird hier verstanden als

  1. eine Handlung
  2. in Bedrohungssituationen, die ausgeführt wird
  3. mit dem Ziel, den Konflikt zu reduzieren.
  4. Der/die gütekräftig Handelnden fühlen sich auf gemeinsame Interessen mit den Kontrahenten verpflichtet,
  5. sie gehen ohne den Einsatz verletzender oder tötender Gewalt vor,
  6. die Möglichkeit eigenen Irrtums wird beachtet.
  7. Ziel ist die Verbesserung der Beziehung der Interakteure.

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit sozialpsychologischen Erkenntnissen und Befunden zu einem so charakterisierten gütekräftigen Verhalten. Die innerhalb der Sozialpsychologie geläufigen Themen hilfreiches Verhalten, Konfliktbearbeitung und Minderheiteneinfluss sollen in Bezug darauf diskutiert werden, welche möglichen Anregungen sie für die Erforschung gütekräftigen Verhaltens bieten.

Hilfreiches Verhalten

Altruistisches Handeln wird definiert als Handlung, die mit der Absicht ausgeführt wird, einer konkreten Person oder Personengruppe eine Wohltat zu erweisen, und die freiwillig ohne dienstliche Verpflichtung ausgeführt wird (Bierhoff, 1990, S. 9). Die sozialpsychologische Beschäftigung mit hilfreichem Verhalten geht zurück auf die Ermordung einer Frau in den Vereinigten Staaten im Jahr 1964. Eine halbe Stunde lang hatte ein Mann auf die junge Frau eingestochen, die Polizei konnte am nächsten Tag feststellen, dass 38 Personen die Schreie der Frau gehört hatten, ohne zu helfen oder die Polizei zu rufen. Ausgangspunkt der sozialpsychologischen Beschäftigung mit hilfreichem Verhalten war die Frage, warum in Situationen wie dieser Hilfeleistung unterbleibt.

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass wir u. a. dann Menschen in Notsituationen helfen, wenn wir uns kompetent fühlen, die notwendigen Hilfsmaßnahmen auch tatsächlich ausführen zu können (Clark & Word, 1974). Inkompetenz führt zu Angst vor Fehlern oder zu Angst vor Blamage. Unsere Bereitschaft, Hilfe zu leisten, hängt auch davon ab, ob andere potentielle Helfer anwesend sind. Die Anwesenheit unbekannter anderer führt eher zu Unsicherheit darüber, wie die Situation zu interpretieren ist – liegt wirklich eine Notlage vor? – und zur Diffusion der Verantwortung mit der Konsequenz, dass die Hilfeleistung abnimmt (Latane & Nida, 1980). Die Anwesenheit von Freunden hingegen hat vermutlich nicht diesen Effekt, vielleicht weil diese davon ausgehen können, sich bei der Hilfeleistung gegenseitig zu unterstützen. Die geschilderten Forschungsbefunde sind möglicherweise auch für gütekräftiges Verhalten von Bedeutung. Erfolgreiches gütekräftiges Verhalten setzt Handlungskompetenz voraus. Und gütekräftiges Verhalten kann nur dann zum Einsatz kommen, wenn wir uns verantwortlich fühlen und die Verantwortung nicht auf andere abschieben.

Hilfreiches Verhalten wird gelernt. Die Wahrscheinlichkeit hilfreichen Verhaltens steigt, wenn uns Modelle für hilfreiches Verhalten zur Verfügung stehen (Grusec & Skubiski, 1970). Hilfreiches Verhalten nimmt außerdem zu, wenn auf das Verhalten eine Belohnung folgt, es nimmt in dem Maße ab, in dem das Verhalten mit negativen Konsequenzen einhergeht (Rushton & Teachman, 1978) – und wenn es sich dabei auch nur um Zeitverlust handelt. Gütekräftiges Verhalten wird vermutlich in ähnlicher Weise von Lernprozessen beeinflusst. Eine der wichtigen Forschungsfragen im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit hilfreichem Verhalten ist, ob hilfreiches Verhalten auch selbstlos ausgeführt wird, ob es also echt altruistisches Verhalten gibt. Einiges deutet darauf hin, dass Empathie unsere Bereitschaft zur Hilfeleistung beeinflusst. Unter Empathie versteht man u. a. die Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle einer anderen Person zu begreifen und nachzuerleben. Möglicherweise helfen wir, weil wir in empathischer Weise stellvertretend die Leiden anderer Personen wahrnehmen (Piliavin, Piliavin & Rodin, 1975). Die Frage ist dann: Helfen wir, weil wir die Leiden der hilfsbedürftigen Person vermindern wollen, oder helfen wir, um unsere eigene Betroffenheit über das Schicksal der hilfsbedürftigen Person zu reduzieren. In der Forschung gibt es einige Hinweise, dass hilfreiches Verhalten fast immer subtil auch egoistisch motiviert ist, also ausgeführt wird, um unser eigenes Unbehagen abzubauen (Batson, Early & Salvarani, 1997). Echt altruistisches Verhalten ist nur schwer nachzuweisen.

Die im Zusammenhang mit der Erforschung von Hilfeverhalten aufgeworfene Frage danach, ob wir überhaupt in der Lage sind, echt selbstloses Verhalten zu zeigen, ist natürlich auch von Bedeutung für die Beschäftigung mit gütekräftigem Verhalten. Oben war der/die gütekräftig Handelnde als eine Person beschrieben worden, der/die sich auf gemeinsame Interessen verpflichtet fühlt. Die Frage ist, gibt es überhaupt Fälle, in denen die Interessen der Interaktionspartner auch dann Berücksichtigung finden, wenn diese Rücksichtnahme in keiner Form mit persönlichen Vorteilen verbunden ist – und mögen diese persönlichen Gewinne auch nur darin bestehen, sich selbst wohlwollend auf die Schulter klopfen zu können?

Insgesamt bietet die sozialpsychologische Forschung zu hilfreichem Verhalten eine Reihe von interessanten Anknüpfungspunkten für die Auseinandersetzung mit gütekräftigem Verhalten. Ein wesentlicher Strukturunterschied besteht jedoch zwischen hilfreichem und gütekräftigem Verhalten: Hilfreiches Verhalten ist in der Regel von einer starken Asymmetrie zwischen helfender Person und hilfsbedürftiger Person zu Ungunsten der letzteren gekennzeichnet. Gütekräftiges Verhalten kommt im Gegensatz dazu auch in Situationen zum Tragen, in denen zwei Interaktionspartner “auf gleichem Niveau” aufeinander treffen. Möglicherweise sogar könnte gütekräftiges Verhalten vor allem in solchen Situationen erfolgreich sein, in denen der gütekräftig Handelnde aus einer unterlegenen Situation heraus die Auseinandersetzung aufnimmt.

Konfliktbearbeitung

Ein wesentlicher Teil der sozialpsychologischen Aggressionsforschung (vergl. Bierhoff & Wagner, 1998) und der Forschung zum Thema Intergruppenkonflikte (Taylor & Moghaddam, 1994) hat sich mit der Frage der Konfliktreduzierung befasst. Dabei werden sowohl Konflikte um materielle Ressourcen als auch Meinungskonflikte betrachtet, Konfliktpartner können Individuen, aber auch Gruppen sein.

Die Forschung geht darüber hinaus sehr häufig von einer Vorstellung aus, wonach Konflikte als eher störend und hinderlich begriffen werden, die mögliche Innovations­kraft von Konflikten wird dabei vernachlässigt. Die Ergebnisse dieser Ansätze zur Erforschung von Konfliktbearbeitung zeigen, dass längerfristige Auseinandersetzungen häufig dadurch entschärft werden können, dass die oft nur noch über Distanzen miteinander Streitenden in persönlichen Begegnungen einander besser kennen lernen und gegenseitige Ressentiments und Ängste abbauen. Solche persönlichen Interaktionen ermöglichen dann auch direkte Verhandlungen. Als besonders effektiv zur Konfliktreduzierung haben sich Konzessionen erwiesen, indem sich einer der Verhandlungspartner ohne Vorbedingungen bereit erklärt, beispielsweise einen Teil seines Drohpotentials abzubauen (Osgood, 1962).

Wenn hier der positive Einfluss von direkten und persönlichen Kontakten auf die Entwicklung von Konflikten betont wird, ist zu beachten, dass es auch Bedingungen gibt, unter denen direkte Begegnungen eher zu vermeiden sind. Vor allem bei Auseinandersetzungen die Gefahr laufen in physische Gewalt zu eskalieren, ist u. U. zunächst die Herstellung physischer Distanz erforderlich um die Gefahr der Konflikteskalation zu reduzieren.

Die genannten Strategien zur Konfliktbearbeitung sind vermutlich auch bei gütekräftigem Verhalten sinnvoll einsetzbar. In diesem Zusammenhang könnte von besonderer Bedeutung eine Konfliktreduktionsstrategie sein, deren Wirksamkeit Deutsch bereits 1949 dargelegt hat: die Verfolgung gemeinsamer übergeordneter Ziele (vergl. auch Sherif & Sherif, 1969). Häufig können Konfliktpartner ihre Konfliktsituation so umstrukturieren, dass sie aus gemeinsamer Kooperation je individuelle Vorteile ziehen können. Ein Merkmal gütekräftiger Kompetenz könnte in der Fähigkeit zur Herausarbeitung kooperativer Interdependenz liegen.

Einige Formen von Aggression und Gewalt sind Ausdruck von Unsicherheit, insbesondere Unsicherheit im Selbstwertgefühl (Tangney, Wagner, Fletcher & Gramzow, 1992). Die Reduktion von so bedingter Aggression setzt auf die Stärkung des Selbstwertgefühls – eine Strategie, die vermutlich auch die Bereitschaft und Fähigkeit zu gütekräftigem Verhalten positiv beeinflusst. Gleichzeitig ergibt sich, dass gütekräftiges Verhalten vermeiden muss, den Selbstwert der oder des Kontrahenten in Frage zu stellen.

Die hier vorgestellten Maßnahmen zur Konfliktbearbeitung zielen darauf ab, gewaltsame Konfliktdurchsetzungen zu entschärfen und durch Verhandlung und kooperative Lösungen zu ersetzen. Von daher ergeben sich sehr enge Beziehungen zur Analyse gütekräftigen Verhaltens. Zwei der konstituierenden Merkmale gütekräftigen Verhaltens, die Orientierung auf gemeinsame Interessen und die Inrechnungstellung eigenen Irrtums, finden jedoch kaum Beachtung. Die existierende sozialpsychologische Erforschung von Konfliktbearbeitungsmöglichkeiten ist damit für die Analyse gütekräftigen Verhaltens alleine keinesfalls hinreichend.

Minderheiteneinfluss

Unklar ist bislang, welche konkreten Verhaltensweisen besonders geeignet sind, Konfliktlösungen im Sinne gütekräftiger Konfliktbearbeitungen effektiv herbeizuführen. Hinweise auf konkrete Handlungsstrategien bietet die Forschung zu Minderheiteneinfluss. Dieses Forschungsgebiet befasst sich mit der Frage, wie es machtlosen und zahlenmäßig unterlegenen Gruppen gelingen kann, Mehrheiten und Stärkere von den eigenen Meinungen zu überzeugen. Als effektiv hat sich ein konsistenter Verhaltensstil erwiesen: Minderheiten, die ihre Überzeugungen konsistent vertreten, sind besonders überzeugend (Moscovici, Lage & Naffrechoux, 1979). Dies gilt vor allem dann, wenn sie ihre Überzeugung auch gegen äußeren Druck und unter Inkaufnahme von persönlichen Nachteilen vorbringen. Vermutlich veranlasst eine solche Haltung einer machtlosen Minderheit Beobachter dazu, über die von der Minderheit vorgetragenen Ideen nachzudenken (Moscovici, 1980). Sind diese überzeugend, werden sie akzeptiert.

Bislang liegen keine Befunde darüber vor, ob konsistente Verhaltensweisen auch dazu geeignet sind, gütekräftiges Verhalten zu begünstigen. Die empirische Frage ist beispielsweise, ob Konsistenz das Risiko der Eskalation von Konflikten in physische Gewalt vermindert (vergl. dazu auch Axelrod & Dion, 1988). Ausgeblendet wird in der geschilderten sozialpsychologischen Beschäftigung mit Minderheiteneinfluss bislang außerdem die Frage, wieweit der Einsatz von Verhaltenskonsistenz tatsächlich dem Ziel dient, zur Konfliktreduktion beizutragen, oder ob Verhaltenskonsistenz nur als taktisches Mittel eingesetzt wird, um die eigenen Interessen möglichst effektiv durchzusetzen, unabhängig von gemeinsamen Interessen der am Konflikt Beteiligten.

Resümee

Die angeführten Modelle und Befunde sollten deutlich machen, dass die Sozialpsychologie bereits über Konzepte verfügt, die zur Untersuchung von Gütekraft Gewinn bringend nützlich gemacht werden könnten. Der Einsatz gütekräftigen Verhaltens hängt zusammen mit der Handlungskompetenz, -sicherheit und -bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung zur Problemlösung. Abgesehen von Konfliktsituationen, die in der Gefahr stehen, unmittelbar in physische Gewalt umzuschlagen, sollte die Bereitschaft, Nähe und persönliche Kontakte zum Konfliktpartner bzw. -partnerin aufzunehmen, vertrauensbildende deeskalierende Vorleistungen aufzugreifen und gemeinsame übergeordnete Ziele für die Konfliktparteien zu entwickeln, helfen, gütekräftige Problemlösungen herbeizuführen. Ein starkes und sicheres Selbstwertgefühl sollte ebenfalls die Fähigkeit zu gütekräftigem Verhalten verbessern. Schließlich gibt es gute Gründe anzunehmen, dass konsistente Verhaltensstile die Durchsetzung eigener Interessen auf gewaltfreiem Wege begünstigen.

Hier wurden einige möglicherweise hilfreiche sozialpsychologische Überlegungen zur Erforschung von Gütekraft eingeführt, Beschränkungen dieser Konzepte im Bezug auf die o. a. Definition gütekräftigen Verhaltens wurden benannt. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die Beschränkung auf eine Disziplin, hier die Sozialpsychologie, einer sachangemessenen Betrachtung des Konzeptes Gütekraft nicht gerecht werden kann. Die Analyse von Gütekraft setzt voraus, dass die gesellschaftlichen Randbedingungen Beachtung finden, die den Einsatz gütekräftigen Verhaltens möglich machen oder behindern, sie erfordert eine ethisch-moralische Analyse der Zulässigkeit einzelner Handlungsstrategien, eine Reflektion der metaphysischen oder religiösen Hintergründe der Handelnden, und vieles mehr. Die empirische Erforschung von Gütekraft ist möglich, eine interdisziplinäre Fragestellung wie die nach den Möglichkeiten gütekräftigen Verhaltens erfordert jedoch auch eine ebensolche Herangehensweise.

Literatur

  • Axelrod, R. & Dion, D. (1988). The further evolution of cooperation. Science, 242, 1385-1390.
  • Batson, C. D., Early, S. & Salvarani, G. (1997). Perspective taking: Imagining how another feels versus imagining how you would feel. Personality and Social Psychology Bulletin, 23, 751-758.
  • Bierhoff, H. W. & Wagner, U. (1998). Aggression und Gewalt: Phänomene, Ursachen und Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Bierhoff, H. W. (1990). Psychologie hilfreichen Verhaltens. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Clark, R.D. & Word, L..E. (1974). Where is the apathetic bystander? Situational characteristics of the emergency. Journal of Personality and Social Psychology, 29, 279-287.
  • Deutsch, M. (1949). An experimental study of the effects of cooperation and competition. Human Relations, 1949, 199-231.
  • Grusec, J. E. & Skubiski, S. L. (1970). Model nurturance, demand characteristics of the modeling experiment, and altruism. Journal of Personality and Social Psychology, 14, 352-359.
  • Latane, B. & Nida, S. (1981). Ten years of research on group size and helping. Psychological Bulletin, 89, 308-324.
  • Moscovici, S. (1980). Towards a theory of conversion behavior. In L. Berkowitz (ed.), Advances in experimental social psychology (vol. 13). (pp. 202-239). New York: Academic Press.
  • Moscovici, S., Lage, E. & Naffrechoux, M. (1969). Influence of a consistent minority on the response of a majority in a color perception task. Sociometry, 32, 365-80.
  • Osgood, C. E. (1962). An alternative to war and surrender. Urbana, IL: University Press.
  • Piliavin, I. M., Piliavin, J. A. & Rodin, J. (1975). Costs, diffusion, and the stigmatized victim. Journal of Personality and Social Psychology, 32, 429-438.
  • Rushton, J. P. & Teachman, G. (1978). The effects of positive reinforcement, attributions and punishment on model induced altruism in children. Personality and Social Psychology Bulletin, 4, 322-325.
  • Sherif, M. & Sherif, C. W. (1969). Social Psychology. New York: Harper & Row.
  • Tangney, J.P., Wagner, P., Fletcher, C. & Gramzow, R. (1992). Shamed into anger? The relation of shame and guilt to anger and self-reported aggression. Journal of Personality and Social Psychology, 62, 669-675.
  • Taylor, D. M. & Moghaddam, F. M. (1994). Theories of Intergroup Relations: International Social Psychological Perspectives. Westport, CN: Greenwood Publishing Inc.